⬅️ SEMIOLOGIAx
Eine Neume (griech.: Wink, das Zunicken) ist das Handzeichen, mit dem der Scholaleiter anzeigt, welche Art von Silbe zu singen ist. Eine Neume ist also eine Silbe, egal wie viele „Töne“ oder Stufen diese Silbe hat. Davon abgeleitet bezeichnet man das schriftliche Zeichen für eine Silbe als Neume, vor allem bei den adiastematischen Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts. Sobald die Neumen auf Linien gesetzt werden und ihre artikulatorische Aussage verlieren, ist die Bezeichnung der Noten als „Neume“ fragwürdig und eher museal.
Neumen werden üblicherweise nach ihrer Tonanzahl definiert, was nur dann sinnvoll wäre, wenn die Töne gleich lang wären, wie es der Äqualismus des 20. Jahrhunderts (Solesmes) postuliert hat. Seit auf Grund der Neumen von St. Gallen und Laon der Äqualismus überwunden wird, und ein nicht taktierendes sondern sprechendes Singen Platz greift, das den Unterschied zwischen kurrenten und nicht kurrenten Neumen akzeptiert, sodass eine „episemierte Virga“ (Eintonneume) je nach Kontext sogar länger dauern kann als eine „Tristropha“ (Dreitonneume), ist die Tonanzahl als Maß der Neume obsolet. Die Tonanzahl einer Neume zum Maß zu nehmen ist so zielführend, wie das Gewicht der gesprochenen Silben nach ihrer Buchstabenanzahl zu werten. Wir gehen von den TONSTUFEN aus (und selbst das kommt bald an seine Grenzen).
EINE NEUME IST EINE SILBE, alle „musikalischen“ Vorurteile sind wegzulassen. „Eine Neume ist eine Silbe, eine Silbe ist eine Neume“. Die Neume wird nicht durch das graphische Zeichen, seine „Noten“ – ihre optische Gestalt –, sondern allein durch die zu sprechende Silbe – ihre Klanggestalt – definiert.
EINE NEUME BEGINNT NICHT MIT DER ERSTEN NOTE, SIE HÖRT MIT DER LETZTEN NOTE AUF.
Die Anregung zu diesem Axiom ging von L. Agustoni aus. Als er bei den Gregorianikkursen in Essen von seinem seiner Meinung nach missglückten Lehrbuch von 1963/1968 sprach, stellte er fest: „Aber ich habe darin nichts Falsches gesagt – außer den einen Satz 'Eine Neume beginnt mit der ersten Note' – das ist falsch.“ Entgegen neuzeitlichem Denken haben wir frühmittelalterliche Strukturen (Melodien, Neumen) vom Ende her zu denken: „in finis iudicabitur“.
Einleitung Hradetzky-Marsch So wird Musik „modern“ gedacht: die musikalische Figur beginnt mit der ersten Note, mit der Note nach dem Taktstrich (????fehlt ein Tonbeispiel????). So ist die selbe Melodie „gregorianisch“ zu verstehen: die musikalische Figur hört am Schluss auf.
SINGEN SIE SCHMUTZIG, ERST WENN SIE SCHMUTZIG SINGEN, IST ES SCHÖN.
L. Agustoni hat mit diesem Satz bei den Gregorianikkursen in Essen ein grundsätzliches Problem zwischen romanischer und germanischer Denkweise angesprochen. Die Reaktion der deutschen Studenten ließ nicht lange auf sich warten: eine Minute vor Ende der Vorlesung, ein entweder – oder aus Zeitnot erzwingend, kam die Frage: „Ist das nun ein Ton oder nicht?“. Sprechende Melodien nach „Tonanzahl“ messen zu wollen (deutscher Klavierspieler-Zugriff), ist der falsche (neuzeitlich technische) Ansatz. Stufen, egal mit welcher „Schmutzigkeit“ erreicht (italienischer Violinisten-Zugriff), sind der bessere Ansatz Sprachmelodien zu verstehen.
Das hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Quellen und ihre Interpretation,
das stellt das etablierte System der gregorianischen Begriffe in Frage
und erfordert einen völligen Neuansatz, basierend auf den Erkenntnissen von Eugene Cardine, Rupert Fischer, Luigi Agustoni und Godehard Joppich.
• Grundsätzlich ist bei der kurrenten (jeder) Neume der erste Ton schwach: INITIO DEBILIS SEMPER. Dies entgegen dem romantischen Musikverständnis, wie es den Neumen Joseph Pothiers zugrundeliegt. Erst auf der Basis eines grundsätzlichen mehr oder weniger schwachen Anfangs jeder Neume, kann die spezielle Notation einer „Anfangsartikulation“ sinnvoll sein. Was beim Torculus specialis allgemein erkannt ist (wenn auch in der Praxis wenig rezipiert), ist auf alle mit Aufstieg beginnenden Neumen anzuwenden, speziell auf den kPes, aber auch auf den kTorculus.
• Quilisma und Oriscus sind zwei Zeichen, die in der Adiastemie eine helfende Funktion anstelle der fehlenden Linien haben. In der Diastemie sind sie überflüssig. Die diastematischen Schreiber, im Dilemma kein Jota und Strichlein auslassen zu wollen/dürfen, übertragen die unverstandenen Zeichen Oriscus und Quilisma dann doch als Ton, wenn manchmal auch an ungewöhnlicher Stelle: QUILISMA et ORISCUS NON SONANTES.
• Die „Liqueszenz“ hat nie einen (auch noch so kleinen) Nebenton. Die augmentative Liqueszenz breitet eine wichtige Silbe klanglich aus, die diminutive Liqueszenz kappt (z.B. die weiterführende Clivis) und staut. Ihre Aufgabe ist es, gerade diesen zweiten weiterführenden Ton zu verhindern: LIQUESCENS SINE SECUNDO TONO.
Diese drei Grundsätze unterscheiden unsere Restitution/Interpretation wesentlich von dem seit 150 Jahren gängigen Verständnis (opinio communis) davon, was Gregorianischer Choral sei.
Daraus resultiert aber auch eine geänderte Verwendung der Quadratnotenschrift. Die von Joseph Pothier auf Basis der Schreibpraxis im Anjou des 15. Jahrhunderts festgelegte Schrift spiegelt das Musikverständnis des 19. Jahrhunderts wieder und wurde bis heute nicht (Ausnahme Liqueszenzgraphien LH 1983) an neue Forschungsergebnisse angepasst. Das GrN hat zwar Töne ausgebessert, aber das Notenbild (Neumengraphien und Gliederungen) unverändert gelassen. Das hält eine erhebliche, den Sänger behindernde Diskrepanz zwischen Neumen und Noten offen. Unser Quadratnotenbild versucht diese Diskrepanz zu verringern, die artikulatorischen Gegebenheiten der Neumen möglichst zu übertragen und die oben genannten Erkenntnisse anzuwenden. Dabei soll das Quadratnotenbild nicht überladen werden.
Auf Gliederungszeichen verzichten wir völlig und verwenden stattdessen Sinnzeilen.
In den St. Galler Handschriften werden grundsätzlich nur zwei Zeichen für den Einzelton verwendet: Virga (lat.: Zweig, Ast, Rute) und Tractulus (lat.: das kleine Gezogene).
Virga (Vrg): jeder höhere Ton / jede höhere Silbe
Tractulus (Trt): der tiefste Ton / die tiefste Silbe (ex parte post – ex parte ante = in Bezug auf den folgenden – den vorhergehenden Ton).
Die Neumen sind aber kein Linien-Ersatz sondern Emotions-Notation. Daraus folgen ungewöhnliche Eigenarten.
Der tiefste Ton ist Tractulus, alle anderen Töne Virga, 0400 „captivi-tátem“ müsste also Tractulus sein, wenn diese Wort nicht das Schlüsselwort der Antiphon wäre, dazu noch die beiden Silben Akzent- und Schlusssilbe sind. Das Wort ist emotional gespannt, das kann nicht durch Tractulus dargestellt werden, daher doch Virga. Ebenso in 0383: „…et salvus ero domine“ = „…und ich werde gesund“.
Entgegen der gängigen Meinung über die St. Galler Handschriften hat Hartker sehr wohl eine unvollkommene Diastemie und setzt die Virga tiefer und höher, den Melodieverlauf darzustellen. Die Gefahr von Über- und Fehlinterpretation ist allerdings hoch. Bei gleich hohen Tönen vor dem Abstieg wird die letzte hohe Virga höher gesetzt, wie es ein guter Dirigent tut, der ein zu frühes Absinken der Stimme verhindern will „dóminus“. Bei „captivitatem plebis“ ist der gesamte Melodieverlauf aus den Neumen nachzuempfinden. Siehe auch 0383: „…et salvus ero domine“.
vide 0623 „quia per apostolum“
Der Wechsel zwischen Virga und Tractulus geschieht nach den selben Regeln wie in St.Gallen. Mont Renaud zeichnet aber darüber hinaus den Tonhöhenverlauf durch längere und kürzere Virgen nach (unvollkommene Diastemie). Das gelingt zeitweise recht eindrücklich: „veniet“ - „alleluia“, manchmal nicht so sehr: „sancti eius cum eo“. Oder sollte die Verkürzung der Virga „cum“ gegenüber den vorhergehenden Silben „eius“ eine Rücknahme der Intensität anzeigen? Die Länge (?) oder Dicke des Tractulus zeigt sicher mehr oder weniger Gewicht der Silbe an: „veniet et omnes“.
Was in E/C/H die Virga ist, ist in L der Uncinus, ein geschwungener Tractulus mit „Aufstrich“. Den Uncinus höher und tiefer schreibend wird der Tonhöhenverlauf in etwa nachgezeichnet (unvollkommene Diastemie).
Leichte, praetonische Silben werden mit Punctum dargestellt. Diese Möglichkeit haben die St. Galler nicht (mit Ausnahme manchmal in C), sie schreiben hier celeriter, oder setzen das Wissen um die Leichtigkeit der praetonischen Silben voraus.
Bv entspricht dem mit seiner Acuasta, e.g. CO 0688 Narrabo „mira-bilia“.
Die Virga in L kommt nur (?) als Teil einer Mehrtonneume als melodischer Höhepunkt vor (cf. Pes, Scandicus).
In praetonischen Kontexten kennt kennt auch C 0167 Punctum als Eintonneume, Bam sogar noch häufiger. H allerdings und E schreiben immer Traculus, bestenfalls einen sehr kurzen Tractulus.
Der Gravis ist ein nach rechts fallender Tractulus. Er zeigt in den adiastematischen Handschriften einen besonders tiefen Ton an. E 0626 „super uno pec-ca-tore“.
Im AN-Repertoire kommt er häufiger vor (über 80x) z.B. 1326 „hic est enim“, „in-ter natos“, 0075 „Di-es domini“.
Sehr markant der Gravis in 0922 „Scitis“ Quint tiefer : senkrecht und beidendig episemiert.
In Ch kommt auch ein rechts aufsteigender Tractulus vor 0002 „Ad te levavi“.
In Bv zeigt das nach rechts fallende Strichlein nur an, dass der Ton davor höher war 0006 Bv33 „eius po-tentes“, „eius ad audiendam“, Das kommt aus der Schreibpraxis, bei absteigenden Tönen die Feder nach rechts zu drehen. Inwieweit eine Informationsabsicht dahinter steht, ist schwer auszumachen.
Wieder anders stellt sich die Frage in A + Y. Hier sind die Pünktchen/Strichlein wieder eher Ausdruck der Kurrenz, wobei die Aquitanier jeden tiefsten Ton mit Tractulus versehen.
Die Wertigkeit einer Silbe, auch wenn sie nur einstufig ist, kann vielfältig dosiert sein. In G und L kann ein Ton praetonisch / kurrent / leicht / normal / nicht kurrent / breit sein. Es wäre aber falsch diese Unterscheidungen definierend der kategorial zu verstehen. Sie sind keine absoluten Wertungen, sondern haben nur im Kontext das rechte Gewicht. Auch hier müssen wir uns vom modernen definieren verabschieden und mittelalterlich assoziieren. So sind E und L scheinbar nicht immer auf der selben Linie. Ch + MR kümmert hier der Silbenwert nicht (mehr); Virga und Tractulus sind melodisch relevant.
Die Bivirga und Tristropha zeigen reperkutierend den Mehrwert einer Silbe auf. Dabei kann man die Bivirga als die nicht kurrente Form, die Tristropha als die kurrente Form der Amplifizierung ansehen.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass MR meist, Ch oft, L ebefalls nicht selten 0894 „pleni-tú-do“ die Bivirga als
Bivirga urgens notieren. Die traditionelle Chorallehre würde diese Neume als „Pes mit Amplifizierung auf dem oberen Ton“ bezeichnen. Diese Bezeichnung berücksichtigt jedoch nicht die Leichtigkeit des ersten Pes-Tones, der in E immer und in L meistens entfallen kann. Sie denkt vom Anfang an und bedenkt nicht, dass „eine Neume nicht mit dem ersten Ton beginnt“, sondern mit dem letzten aufhört. Mit dieser Neume ist die Grenze zwischen einstufig und zweistufig aufgeweicht.
Wc hat für die Bivirga urgens eine eigene, durchaus auffällige Graphie, z.B.:7698 „interce-de“, 7654 „ple-na“, 7409 „in sae-cu-lum“
Der Strophicus ist in L + Ch grundsätzlich endartikuliert, die Puncta werden mit Tractulus abgeschlossen. E gibt dem letzten der 3 Strophici nicht grundsätzlich, aber in artikulatorisch berechtigten Fällen ein Episem. Wir notieren das durch eine Rhomba an Stelle des letzten Strophicus.
Die Virga von St.Gallen und der Uncinus von Laon werden, wie üblich als Quadrata übertragen.
Die leichten praetonischen Silben von L (und C) werden als Rhomba notiert.
Die episemierte Virga, vor allem im AN-Repertoire, steht meist auf der Endsilbe eines Satzteiles und gliedert so (an Stelle einer divisio), fast ebenso häufig betont sie, breitet sie Akzentsilben aus. Die episemierte Virga schreiben wir als Quadrata mit Hals (Virga).
Pes (tief - hoch) und Clivis (hoch - tief) sind zweistufige Neumen, Silben die auf zwei Tonstufen gesprochen/gesungen werden, egal wie groß das Intervall ist (SekundPes, TerzPes, QuartPes). Sie sind die Elementarbewegungen der Musik (L. Agustoni).
Der Pes betont eine Silbe, regt auf, akzentuiert. (Pes, lat.: Fuß)
Die Clivis beruhigt, enttont, verbreitert und verbindet. (Clivis, griech: clínein: lehnen, anlehnen)
Die frühen adiastematischen Hss „artikulieren“ die Neumen, das heißt sie unterscheiden zwischen nicht kurrent (nk) und kurrent (k). Beim nkPes sind beide Töne gleich gewichtig, beim kPes ist der erste Ton leicht, machmal so leicht, dass er in verschiedenen Hss ganz wegfällt und nur eine Virga, der obere Ton, übrig bleibt (s.u.). Man könnte einen solchen kPes auch als „Virga urgens“ bezeichnen.
Auch die Clivis unterscheidet „nicht kurrent“ und „kurrent“, allerdings gibt ihr grundsätzlich beruhigender Charakter der normalen Graphie bereits einen ruhigen, mittleren Wert. Eine kClivis wird in H mit zusätzlichem c (celeriter) geschrieben (ca.30% der Fälle). Die nkClivis hat ein Episem, sie wird mit einem „Zusatzzeichen“ dargestellt. H notiert bei der Clivis also 3 Kategorien: kurrent - mittlerer Wert - nicht kurrent. MR kennt diese Unterscheidungen nicht: es gibt nur ein einziges Zeichen für die Clivis.
Die adiastematischen Hss des Graduale-Repertoire sind in ihren Möglichkeiten breiter gestreut. Neben den St.Galler Hss (statt H nun C+E) und MR (codex MR umfasst AN- und GR-Repertoire) geben uns auch L, Ch und das adiastematische Bv33, Zugriffsmöglichkeiten auf die gregorianische Artikulation, die ursprüngliche Sprechabsicht des Chorals.
Die ostfränkischen Hss = St.Galler Hss E (+C etc.) notieren durch „Veränderung des Zeichens“: rund = kPes, eckig = nkPes.
Die westfränkischen Hss L+Ch+MR verwenden „Neumentrennung“. Die zwei Töne werden als zwei getrennte Zeichen geschrieben.
Bv+Ang kennen nur ein einheitliches Zeichen (verbunden) für den Pes. Allerdings bedeutet bei ihnen die Einrundung des Zeichens eine Rücknahme des ersten Tons; der Pes hat schwachen Anfang, er ist „initio debilis“ , auf halbem Weg zur Eintonneume = Virga(urgens).
Das Episem beim kPes in E ist nicht wirklich eine Zusatzinformation, es ist Erinnerung an die ohnehin selbstverständliche Endartikulation.
Auch die Clivis unterscheidet „nk“ und „k“, allerdings gibt ihr beruhigender Charakter der normalen Graphie bereits einen ruhigen, mittleren Wert. Eine kClivis wird in H mit zusätzlichem „c“ (celeriter) geschrieben. Die nkClivis hat ein Episem. H notiert bei der Clivis also 3 Kategorien: kurrent - mittlerer Wert - nicht kurrent.
In L und Ch ist die Clivis klar in 2 Kategorien geteilt: kurrent = Aufstrich+Abstrich verbunden; nicht kurrent = zwei getrennte Uncini in L bzw. zwei Tractuli untereinander in Ch.
MR kennt diese Unterscheidungen nicht: es gibt nur ein einziges Zeichen für die Clivis,
ebenso in Bv+Ang.
in St.Gallen können neben der Artikulation noch Zusatzinformationen mitgeteilt werden: Langer Abstrich bedeutet ein größeres Intervall. Das Episem am Ende der (k)Clivis erinnert daran, nicht achtlos über die Clivis hinweg zu singen.
In L ist das augete zwischen den beiden Tönen eine bloß emotionale, nicht systematische Zutat.
Das Problem
Eine der wesentlichen Konventionen der heutigen Musik (spätestens seit Klassik und Romantik) ist es, dass der musikalische Schwerpunkt auf 1, auf dem Textakzent, nach dem Taktstrich liegt. Dieses a-priori (Vorurteil) hat die Restauration des Gregorianischen Choral im 19.Jahrhundert bis heute geprägt; es gilt schon im Barock und der Renaissance nur eingeschränkt, gab es ja keine Taktstriche. Das Konzil von Trient (Palestrina, Editio mediceae), aber auch bereits die Zisterzienserreform des 12.Jahrhunderts stoßen sich daran, dass wichtige Silben nur auf einen Ton zu singen sind, während Nebensilben mehrere Töne tragen. Was die Zisterzienser vorsichtig und nur ansatzweise tun, wird in der Editio medicaea konsequent und brutal zu Ende geführt: die Melodien werden dem Musikverstand der Zeit und dem Text wie man ihn damals betonte entsprechend angepasst. Nicht nur, dass im Frühmittelalter hebräische Namen noch auf der Endsilbe betont wurden (Jerusalém) ist auch der Pes zum „mi“ allein durch den Zielton „mi“ bestimmt (0039). Der erste Ton des kPes ist so leicht, dass er nur als ein „portamento“, ein Anschleifen, keinesfalls als fixer Tonort darzustellen ist. Wäre er mehr, würde das Wort „Ierusálem“ heißen. Bestätigt wird diese Sicht der Neumen durch den kPes auf der Binnensilbe des Proparoxytonon (PPO).
Vor allem am Ende von Sätzen, aber auch in Binnenposition werden die Binnensilben des PPOs (z.b.: dó-mi-nus) mit einem kPes versehen. Wenn der erste Ton des „kPes“ so gesungen wird, wie es heute üblich ist: der erste Ton trägt das Gewicht der Silbe/Neume, so ruft und rief es die berechtigte Kritik der Zisterzienser und des Tridentinum hervor: „do-mí-nus“ ist des zum Klang gekommenen Wort Gottes unwürdig. Nicht das Wort Gottes ist im Gregorianischen Choral schlecht vertont, sondern unser musikalisches Vorverständnis entspricht nicht dem 1.Jahrtausend.
„Eine Neume/Silbe beginnt nicht mit der ersten Note, sie hört mit der letzten auf“
Der kurrente Pes ist in diesen und anderen Kontexten bloß ein portamento das die Vernachlässigung der Binnensilbe verhindern soll (beachte im französischen „dominus“, das wenn nicht Gott gemeint ist, längst zu „domnus“ reduziert ist). Quer durch die Handschriften werden Proparoxytona (PPO) in rezitierenden Kontexten, das sind vor allem die Schlüsse, auf der Binnensilbe systemlos, ganz beliebig mit Einton oder mit kPes versehen.
Die Antiphon 0733 wird in einer der ältesten Handschriften, in MR, zweimal notiert: Die Binnensilbe des letzten Wortes „vocá-bi-tur“ wird einmal mit kPes, einmal mit Virga notiert. Die Austauschbarkeit/Beliebigkeit der beiden Zeichen im gegebenen Kontext ist offensichtlich. Unser moderner, schriftfixierter Ansatz …..
7082 „fecit mi-hi“
Beide Töne haben Gewicht.
Der Oriscuspes (Pes quassus) ist ein nkPes,
Es geht nicht um das Schriftzeichen, sondern um das Klangereignis einer Silbe.
cf.: 0905 H contra MR
0024 „et é-go“. in Bv, A, Y nur ein Ton.
0621 „fá-ciem“.Bv (Mod,Mp) ein Ton.
• 0684 „cog-nós-ce“. Ch, E, Kl zwei Töne; L, Bv, A , Y ein Ton.
Die Tonanzahl ist kein adäquates Maß die Neumen/Silben zu erklären, die Anzahl der Stufen schon: Der Pes ist eine zweistufige Neume/Silbe nach oben, ein- bis dreitonig.
eintoniger Pes e.g.: „ibi éum vidébitis“ 7742
dreitoniger Pes e.g.: „popule mé-us“ 0073 er ist ein Pes disgregatus, hier „fa“ und „sol“, dessen zweiter Ton ein zusätzliches Portamento erhält. Er is die stärkste Gestalt eines Pes.
Pes in MR
Pes disgregatus z.B. 1280
In H kommt der Pes disgregatus nicht (kaum?) vor. Im Messrepertoire ist er im codex Bam eine häufige Neume. Er zeigt dort an, dass der Ton vor dem Pes tiefer ist als der erste Ton des Pes disgregatus.
Die Clivis (Clv) griech.: clinein: anlehnen, lehnen, sich neigen. Die Clivis ist in ihrer Normalform (Aufstrich und Abstrich) eine ruhige, beruhigende Neume und daher von mittlerem Wert. Die nicht kurrente Form ist oben mit Episem versehen, die kurrente Form mit celeriter.
Wir notieren kClv mit Rhomba und Quadrata, die mClv mit zwei Quadratae, die nkClv mit zwei Quadratae und Hals.
Die Clivis breitet aus und verbindet. cf.: 0002 „confi-do non e-rubescam“ etc.
Clivis terminatio debilis cf. IN 2.tonos der Psalmodie in den Bv Handschriften die zweite Silbe.
Clv initio debilis in L und Ch,
Dreitonige Clivis ad ex.: 7015 „luc-tum“
In ihrer weiterfürend- verbindenden Funktion steht die Clivis am Ende eines Centos.
immer zwei gleich hohe Töne und meist fallende Terz.
Sandhove sitzt in NR p.[10],l.2 „quid“ der do-Revision in Ka. auf!
Der Scandicus (Sca) ist ein übersteigerter, verlängerter und damit verstärkter Pes, eine weitere Akzentneume. Die drei aufsteigenden Stufen
Der kurrente Scandicus (Sca–3) wird in G immer als Salicus geschrieben, der mittlere Ton ist ein Halbkreis, ein sehr reduzierter Oriscus. Damit ist der (leichte) Schwung nach oben ausgedrückt. Allerdings gibt es auch einen nkSalicus (Sal123). L schreibt hier meist einen gewöhnlichen Scandicus (Pkt-Pkt-Vrg), in wenigen besonderen Fällen aber auch den aufwendigen Oriscus (Pkt/Unc-Osc-Vrg). Ch+Ang schreiben grundsätzlich nur Scandicus, wie auch ein Unterschied zwischen k und nk nicht auszumachen ist. MR schreibt Salicus.
Ein besonderer Fall ist die Quintintonation des 1.Modus. Beim Sca-23 (re-la-si) ist der erste Ton so leicht, dass er wie im kPes sogar entfallen kann. Das bestätigt Ang. Ist durch praetonische Silben das „re“ bereits etabliert, so verwendet Ang für den Akzent eine besondere Neumengraphie: Oriscus mit angebundenem kPes (0491). Fehlen praetonische Silben, so schreibt Ang wie alle anderen auch Pes (0026).
Zum Salicus ist zu sagen: in gewisser Weise steht der Oriscus für einen Nicht-Ton!?
cf.0303,
Eine wichtige Neume ist der anfangsartukulierte Sca 1-3 .
Torculus (Trc) (lat.: torquere: umkränzen, umwinden, schmücken) wird die Bewegung tief - hoch - tief genannt, egal welche Intervalle anfallen.
Wie der Pes geht er leicht zum zweiten Ton, wie die Clivis führt er die Energie des Gipfels ruhig zum Ende. Er wird nicht selten auch als „Pes flexus“ bezeichnet, um die Leichtigkeit des Einstieges gegenüber dem ruhigen Ausklang auszudrücken. Die Eigenschaften des kPes bedenkend, wäre „Clivis urgens“ vielleicht der bessere Name. Denn auch beim Torculus, wie beim kPes, ja sogar noch häufiger, entfällt in bestimmten Konstellationen in der einen oder anderen Handschrift der erste Ton und es bleibt eine Clivis (Clivis urgens) über.
Es ist bezeichnend für das a priori unseres Denkens, dass der Torculus zwar öfters schon als „pes flexus“ bezeichnet wurde, vom Beginn her gedacht, aber bisher nie als „clivis urgens“, vom Ende her bezeichnet wurde. Es wird noch eine gewaltige Wende in unserem gregorianischen Denken nötig sein, bevor wir dem Ansatz L. Agustonis wirklich gerecht werden „Eine Neume beginnt nicht mit der ersten Note, sie hört mit der letzten auf“.
Der Torculus ist die Schmuckneume schlechthin. Er breitet eine Silbe aus. Das kann eine Akzentsilbe sein, dann wird der Torculus kurrent (kTrc) notiert. Das kann auch am Satzende die vorletzte Silbe sein, um den Satz abzurunden. Dann ist es immer ein nicht-kurrenter-Torculus (nkTrc). Das Graduale Romanum notiert das in der Quadratnotenschrift mit waagrechtem Episem. Unsere Quadratnoten verwenden dieses Episem nicht, die supralinearen St.Galler Neumen erfüllen diese Aufgabe.
MR unterscheidet nicht zwischen kTrc und nkTrc.
Beide Antiphonal-Handschriften (H+MR) haben allerdings ein eigenes Zeichen für den Torculus initio debilis. In H ist der Mittelteil des kTrc lang gezogen (tracée); in MR ist der erste Ton eingerundet. In unserer Quadratnotenschrift wird dieser erste schwache Ton leer (weiß) geschrieben.
In allen Handschriften steht die verbundene Schreibweise für kTrc. Der nkT ist in C+E durch Ausschwingen der Schreibbewegung dargestellt, L schreibt getrennt drei Uncini. Der nkTrc in Ang wird durch rechts aufsteigenden Schlussstrich dargestellt. MR und Bv unterscheiden nicht zwischen k und nk.
Der Torculus initio debilis ist in C mit langezogenem Mittelstrich dargestellt, in E durch tenete (t) oder Episem auf dem zweiten Ton, dem Gipfel des Torculuszeichens dargestellt.
L und MR verwenden die Einrundung des ersten Tons, um initio debilis darzustellen. Ch schreibt den nkTrc mit Neunentrennung nach dem ersten Ton, was der Graphie von Torculus initio debilis entspricht.
Die ausdrückliche Notation der Endartikulation des Torculus in C + E durch Episem und in L durch „t“ tenete ist nur eine Wiedererinnerung. Das doppelte Episem in C steht an genau jenen Stellen, die in der Praxis („nicht schon wieder vergessen“) regelmäßig vergessen werden. Die Intervalle werden durch längere und kürzere Striche in etwa dargestellt in Ang und Bv.
In Bv zeigt ein waagrechter Anstrich an, dass der Ton zuvor tiefer oder gleich hoch ist. Ein fallender Anstrich weist auf einen höheren Ton zuvor hin. Die Graphien von Bv sind mehr an Melodienverläufen interessiert, als an Artikulation.
Torculus initio debilis (Trc i.d.) - Torculus specialis
Die adiastematischen Neumen der St.Galler Handschriften notieren weniger Tonhöhen, als vielmehr den Tonwert der Neumen/Silben. Wie dieser Tonwert zu verstehen ist, war 100 Jahre Streitpunkt der Wissenschaft. Wo Solesmes sich mit der Zählmethode von Solesmes in die „egalité aller Töne“ flüchtete, und die zünftige Musikwissenschaft sich in Modelle proportionaler Erklärungsmodelle (Viertel,Achtel,Halbe) flüchtete, erkannte Eugene Cardine als erster den Silbenwert der Töne und Neumen. Um proportionales und egalistisches Vorverständnis a priori auszuschließen, sprechen wir heute im Choral von „Artikulation“ an Stelle von Rhythmus.
Cardine machte ernst mit dem Begriff Neume = (erklingende) Silbe. Neben unterschiedlichen Graphien des Torculus gibt es auch wenige Fälle wo auf einer Silbe drei Töne tief - hoch - tief aus Tractulus und Clivis bestehen. Die Metanioa bestand darin, die Graphien „Tractulus und Clivis“ wenn sie auf nur einer Silbe stehen als „Torculus mit Neumentrennung nach dem ersten Ton“ zu verstehen.
So konnte Cardine formulieren (zum ersten Mal mündlich in Klosterneuburg 1968):
Die Artikulation einer Neume kann dargestellt werden durch 1) Zusatz von Zeichen a) Episeme b) Buchstaben 2) Veränderung des Zeichens 3) Neumentrennung
Damit war der Weg frei, auch Handschriften wie L oder Ch zu verstehen, und sich von der Zählmethode von Solesmes (eine Neume beginnt immer mit der ersten Note) und proportionalen Methoden (Viertel, Achtel) zu lösen. Dieser neue Zugang wurde von Cardine „Semiologie“ genannt.
Der Torculus initio debilis (mit schwachem Anfang, oft einfach Torculus specialis genannt) besser als Clivis urgens bezeichnet, wird in drei speziellen sprachlichen (elucotorischen) Kontexten verwendet. Als
• Akzentvorbereitender Torculus, (parans accentum) „TrcPAR“ als
• Wortartikulationstorculus oder (verbum finiens) „TrcFIN“ als
• Intonationstorculus, einen Satz eröffnend (sententiam intonans) „TrcINT“.
Akzent vorbereitend = accentum parans = Trc par
Der Torculus liegt auf der Silbe vor dem Akzent und erzeugt jenen Stau, der den folgenden Akzent provoziert. Er ist immer ein Sekund-Sekund-Torculus und liegt zwischen zwei Tönen im Abstand der großen Terz (fa-la oder sol-si). Einsiedeln setzt grundsätzlich das Wissen um den Trc i.d voraus, nur selten ist eine Verlängerung des zweiten Neumenelements zu erkennen. Im Fall des Introitus (IN) „Misereris“ 0107 weist das „altius“ auf die akzentvorbereitende Position hin. Das „mediocriter“ soll allzuviel Emphase verhindern. Chartres reduziert die Neume zur Clivis (Clivis urgens). Laon, Benevent und auch Mont Renaud haben ein eigenes Zeichen für „initio debilis“: die Einrundung des ersten Element schwächt diesen Ton.
Der „Spezialtorculus“ ist also eine Zwei-bis-drei-Ton-Neume. Offensichtlich ist die Anzahl der Töne nicht geeignet, eine Neume zu definieren. Denn ob eine Clivis geschrieben wird, oder ein Torculus spezialis oder ein gewöhnlicher Torculus ist die Eigenart einer jeden Handschrift. Ob beim Erklingen der erste Ton einen fixen Tonort hat, so könnte man das altius in E deuten, oder zum Portamento mit unbestimmter Tonhöhe wird, oder ganz entfällt, ergibt sich aus der Persönlichkeit und Stimmungslage des jeweiligen Sängers.
Die Handschriften sind in ihrem Vorgehen keineswegs systematisch. In der CO „Viderunt omnes“ schreibt L die Clivis, E kTrc, nur Ch kennt keinen Torculus specialis und notiert meist Clv, manchmal kTrc.
vide: 7380 „et ad ignem“
Wort artikulierend = verbum finiens = Trc fin
Wortartikulation bedeutet das sorgfältige Absprechen eines Wortes, es im Nachhinein zu seinem Wert kommen zu lassen.
„Nótas) mihi fecisti“: „Bekannt) hast du mir gemacht“. Einsiedeln schreibt den Trc specialis mit tenete auf dem zweiten Ton (Torculus mit vorbereiteter Endartikulation -23). Auf „fecísti“ folgt ein kTrc: Akzenttorculus –3. Im IN „Accipite“ folgen drei unterschiedliche Torculi unmittelbar aufeinander. Der Wortende-Torculus (Wortartikulations-Torculus) beschließt mit viel Elan die Stelle. Der Akzenttorculus davor wird wiederum mit dem akzentvorbereitenden Torculus „ Iocun-di-tátem“ vorbereitet.
Der emotional hochgestimmte Beginn der CO „Pater si non potest“ (Palmarum) zeigt die unbestimmte Tonhöhe des portamento auf. Schon ab dem 11. Jh. (Albi aquitanisch) heben sich der erste Ton des Halbtonpes und des Artikulationstorculus zum unisonischen do. Sollte schon im 11. Jh. beim Übergang von rhetorischem zu musikalischem Zugriff auf die Melodien auch eine Neume nicht mehr mit dem letzten Ton aufgehört, sondern mit dem ersten begonnen haben? Bedenkt man die auch heute noch anzutreffende Singpraxis, mit dem ersten Ton zu beginnen, so ist die jüngere Melodienotation richtiger als eine falsch interpretierte „Originalmelodie“.
vide et: 0070 „petitiones vestrae“, 7363 „per totum mundum“.
zum 1.Ton des TrcINT vide 0050
Satz eröffnend/intonierend = sententiam intonans = Trc int
Der Intonationstorculus eröffnet einen Satz schwungvoll. Leichter Quartaufschwung, semitonaler Rückschwung. Vor allem in Tetrarduskontexten, aber auch im Protus erscheint der Intonationstorculus. Er bildet im 7. Modus die typische Intonation.
Auf die Frage, wie denn nun ein Torculus specialis / eine Clivis urgens (Namen sind Festlegung eines a priori/eines Vorurteils) zu singen sei, gibt es drei Antworten
a) Der erste Ton fällt aus, oder nicht (JBG). Das entweder / oder passt nicht in die so einheitliche Tradition der gregorianischen Melodien.
b) Der erste Ton wird ganz bewusst kaum gesungen (GJ). Psychologisch gesehen ein Widerspruch in sich. Dieser Satz erinnert an den Blick des Kaninchens auf die Schlange. In der Praxis wird dann der Ton zwar kurz, aber sehr pointiert gesungen.
c) Laon und Mont Renaud, aber auch Chartres verwenden eigene Graphien, die Leichtigkeit des ersten Tones darzustellen (initio debilis).
Welches Phänomen liegt vor sprachlich / akustisch / musikalisch, wenn die einen Handschriften einen Ton schreiben, die anderen aber nicht, die dritten sogar ein Spezialzeichen erfinden? Könnte es nicht jener „portamentoartige Gleitton“ sein, den Agustoni/Göschl dem Quilisma zu Unrecht zuschreibt? Könnte nicht der Torculus specialis (der Pes flexus) eigentlich eine Clivis sein, die von unten her „portamentoartig“ angeschliffen, österreichisch formuliert „angeraunzt“ wird (Clivis urgens)? Steht uns nicht unser Vorurteil, die Neumen vom Anfang her zu benennen im Weg? Warum heißt der Torculus auch Pes flexus, aber nicht besser „Clivis portamentata“ oder „Clivis inaugurata“ oder „Clivis emphatica“ (Wir haben uns letztendlich auf „Clivis urgens“ festgelegt) ?! Ist dieses Phänomen nicht auch bei der Bivirga zu sehen? Ja, ist es nicht für den kPes hundertfach konstitutiv. Nennen wir dieses Phänomen „portamento“.
Der Intonationstorculus der Psalmodie im 7.Ton (Tetrardus authenticus) kann also eine Dreitonneume sein, sich zur Zweitonneume reduzieren, oder (initium debilis und Liqueszenz bedenkend) zum eintonigen Cephalicus reduzieren. In E ist grundsätzlich der erste Ton „sol“ entfallen; je nach Text stehen Clivis oder Cephalicus, die Zisterzienserreform (Zt) geht dabei mit. Bv, A+Y, Mod, Ang schreiben immer den vollen Intonationstorculus aus. Kl schreibt nur einen Ton, vermeidet die Tonwiederholung und eröffnet die Psalmodie mit „si“ und „do-re“. Leider haben die deutschen Benediktiner in ihrem dt.Antiphonale diese Form gewählt und nicht das richtigere „do“ - „do-re“.
Ein schönes Beispiel für die ganze Problematik ist das späte AL 1660 bei „mundi crimina“. Nur Benevent und Modena tradieren dieses Alleluia. Mod mit vollem Intonationstorculus, Bv mit Cephalicus, dessen Graphie unter keinen Umständen einen zweiten Ton zulässt.
Der Intonationstorculus steigt über die Quart oder Terz, unisonisch zum vorhergehenden Ton, auf. So die gängige Lehre. Wir schreiben grundsätzlich nur Quart-Torculus, um ihn in seiner Funktion besser erkennbar zu machen. Sein erster „Ton“ ist so unbestimmt, er hat keine Ton„höhe“. vide: RP „Peto domine“ 7568 „peccatis“ in codex Wc. Vor allem siehe: CO Ecce virgo 0641 und das “inferius' in E auf dem „ersten Ton“ des Trc.
7443 „un-i-versum“
0690 „Nemo te“ Sonderfall
Akzenttorculus = verbum accens = Trc acc
Steht der Torculus am Wortakzent so ist er grundsätzlich ein kurrenter Torculus (kTrc).
In 0001 „iucun-di-ta-tem“ folgen Trc par - akz - fin unmittelbar aufeinander. Der Trc akz ist ein kTrc.
Torculus am Satzende = Torculus sententiam terminans = Trc ter
Schließt ein Torculus einen ganzen Satz, ein ganzes Stück ab, so ist er immer ein nicht-kurrenter Torculus (nkTrc) und steht ohne Rücksicht auf Akzente auf der vorletzten Silbe.
0002 „erubescam“, „non confundentur“, 0034 „usque in saeculum“
G0480 „proxi-mae“
0861 etc.
Die Kadenz des Deuterus ist ein kTrc mit strophischem Ende, wie bei allen CAD folgt auf der Endsilbe Clv.
Der Porrectus (lat. porrigere: wieder aufrichten) (Por) ist eine Dreistufenneume hoch-tief-hoch.
Anders als der Torculus verbreitert der Porrectus eine Silbe kaum, er streckt sich auf die nächste hin aus, er treibt weiter. Man könnte ihn ein in Melodie umgesetztes statim nennen: obwohl er abrundet, treibt er doch mehr weiter. Der Porrectus ist grundsätzlich eine kurrente Neume, in wenigen Fällen verlangt der Kontext (ca.10%) aber einen ruhigen, nicht-kurrenten Vortrag der Neume.
In den Hss wird sie oft mit Oriscus eingeleitet (Pressus resupinus)
In Toledo ist er unverhältnismäßig klein geschrieben, sodass er nicht leicht als solcher zu erkennen ist cf.: T1+2 7572
Der Climacus (Clm) ist eine Dreistufenneume hoch - tief - tiefer. Er ist eine erweiterte Clivis und beruhigt, rundet ab, vor allem verbreitert er ohne zu betonen. Er lässt Zeit zum Nachdenken. Sehr deutlich wird diese Funktion im Exsultet am Ende jeder Prex.
▪️ Das GR kennt nur eine Form des Clm, eine Virga (Quadrata mit Hals) gefolgt von zwei Rhomben und malt damit den kClm von G ab. G + L verwenden hingegen drei Formen des Clm: kurrent - nicht kurrent und Clm mit Anfangsartikulation (climacus initio articulatus = ia).
▪️ Die Virga(-graphie) am Beginn der Neume in G bedeutet keine Mehrwertigkeit, sie zeigt den melodischen Höhepunkt an und hat den Wert der folgenden Graphie: Folgt ein Punktum (Clm - - 3) ist sie kurrent. Folgt ein Tractulus (Clm 1 2 3) ist sie nicht kurrent. Soll diese Virga nicht kurrent sein, obwohl ein Punktum folgt, muss sie episemiert sein (Clm 1 - 3).
▪️ L + Ch schreiben den letzten Ton der Neume immer endartikuliert ( L Uncinus statt Punctum, Ch Tractulus satt Punctum). Die St.Galler Tradition notiert diese Endartikulation jeder Silbe/Neume grundsätzlich nicht, sie setzt sie als selbstverständlich voraus.
▪️ Ch + MR kennen nur mehr zwei Formen des Clm k - nk, wobei Ch den mittleren Ton des Clm immer kleiner notiert als die beiden anderen, die Graphie steht also näher bei Clm 1-3 als bei Clm 123. MR verwendet verbundene (–3) und getrennte (123) Graphie, allerdings entspricht die Verwendung der beiden Formen nicht mehr eindeutig den Graphien in G + L.
▪️ A+Y und Bv kennen nur mehr eine Form des Clm. Die graphischen Unterschiede in Bv sind nur mehr melodische Hinweise, ohne artikulatorische Bedeutung. Ebenso in Ch + MR: der Abstrich indiziert ein größeres Intervall.
Bivirga subpunctis, oder anders gesagt: ein Clm am ersten Ton amplifiziert.
vide: RP8 CENTO Ω
e.g.: 7059 „le-gem“
Hat eine Neume mehr als drei Stufen, so bleibt bei Scandicus und Climacus der Name derselbe. Man spricht dann eben von einem 4stufigen Scandicus (4Sca) oder einem 5stufigen Climacus (5Clm). In den anderen Fällen wird mit den Begriffen flexus und resupinus erweitert (seit langem schon wird der Torculus (3 Stufen: tief - hoch - tief)) auch als „Pes flexus“ bezeichnet, um seinen gleichzeitig betonenden (Pes) - und ausbreitenden Charakter (Clivis) zu beschreiben: ein Pes wird nach unten gebogen (flexus).
Geht eine Erweiterung (ab-: flexus oder auf-: resupinus) zwei oder mehr Stufen in die selbe Richtung, so wird aus flexus (flx) ⇒ subpunctis (sbp) und aus resupinus ⇒ suprapunctis (spp). Das Quilisma ist kein Ton und zählt daher nicht.
Der Torculus resupinus (CAD mikro)
CAD mikro
Porrectus praepunctis
G-Por
Der Torculus resupinus mit Anfangsartikulation wird von uns Porrectus praepunctis genannt, um smit dem Namen seiner Graphie zu entspreche
(Porrectus flexus) vide 0025
Der Porrectus flexus, die „Doppelclivis“ , sorgt für Enttonung.
GJ 8.3.98 hier ist keinerlei Betonung. Bewußtes Enttonen, ohne die Stimme fallen zu lassen; die Tonhöhe halten, aber ent-tont. 17/3
Der Pes subpunctis ist ein Torculus (Pes flexus), der in der selben Richtung weiterführt. Elucotorisch bezeichnet diese Neume ein nachdenkenswertes Wort. GJ umschrieb die Bedeutung dieser Neume mit „ihr werdet euch noch wundern“ und „darüber könnte man eine ganze Predigt halten“ cf.: 0335, 0723, 1180a.
…4 | kurrenter Pes (kPes) |
..34 | Pes mit vorbereiteter Endartikulation |
.234 | (eigentlich ein Climacus urgens - Clm urg) |
1234 | nicht kurrenter Pes (nkPes) |
1..4 | anfangsartikulierter Pes |
.2.4 | am Gipfelton artikuliert |
12.4 | (entspricht der Standardschreibung im GR) |
1.34 | ? |
..334 | cf.: CO Dominus dabit (0634) „da-bit frúctum“ |
Man könnte die Endartikulation grundsätzlich notieren, wie L und vor allem Ch das tut, und wie wir es auch bei —4 tun, das würde aber die Lesbarkeit der Quadratnoten erschweren .
Die Artikulation der Neumen, die in L und E (C) eindeutig zu lesen ist, wird bereits in Ch weniger präzise. In Bv33 ist nur noch die Anfangsartikulation eine eigene Graphie und auch die ist nicht konsequent verwendet.
Die Clivis suprapunctis ist eigentlich ein akzentuierter Porrectus, ein Porrectus (beschleunigend), der um eine Pesbewegung erweitert, am Ende betont wird.
Der Climacus resupinus (ClmRes) ist eine Neume des Protus und eher selten. (12 Fälle im AN-OFF). Grundsätzlich ist sie kurrent, in 2 Fällen aber anfangsartikuliert.
Der Climacus resupinus hat eine fest umrissene elucotorische Aufgabe. Er steht auf der letzten Silbe vor dem letzten Wort eines Satzes, wenn diese den Haupt/Zielakzent trägt. e.g.: 0035
Am Schluß eines Sprachbogens kann auch der Zielakzent nur tief liegen. Seine Wichtigkeit hörbar zu machen, hebt sich die Melodie kurz vorher an und staut (im Climacus resupinus), bevor der Akzent meist im Satzende-Torculus auf der Finalis erreicht wird.
Clivis suprapunctis flexus (ClvSppFlx)
GJ nennt sie das Ur-Melisma. Die formale Eingrenzung dieser Neume ist schwierig. In ihrer Grundform ist sie 5tonig/stufig und kurrent.
applicatio = Zuneigung
circulatio
circulatio2
circulatio urgens.
7746 „vel iudam“ circulatio urgens. Das Portamento hat keine bestimmte Tonhöhe cf.: Tableau et MR !
(Pes sbp res)
P-Kadenz obwohl nur ein Ton anders (weniger) ist als in der S-Kadenz, hat sie eine völlig andere Bedeutung als diese. P-Kadenz ist abschließend, die S-Kadenz eröffnend weiterweisend.
(Sca sbp)
(Sca cum 5 gradu) Eine Neume, die wohl nicht zum authentischen Choral gehört.
Scandicus flexus resupinus
CAD mega 7167 „legi-time“, 0747 „die“ etc.
Diese Neume bildet mit der üblich folgenden Clivis die häufigste Kadenz des Repertoires. In St.Gallen ist sie immer am Gipfelton artikuliert (Virga mit Episem), die beiden Töne davor sind fast immer mit Punktum notiert, das heißt, sie beschleunigen zum Gipfelton hin.
Sehr selten wird die CAD mit Strichlein (Tractulusgraphien) eingeleitet. Die gesamte CAD ist dann breit(er) zu nehmen a.e.: 0011.
MR schreibt an Stelle des einleitenden Sca einen Pes quilismaticus. Es handelt sich dabei nicht um eine andere Neume, sondern man könnte den qPes in MR als die nicht kurrente Form, des sehr kurrenten Sca in St.Gallen bezeichnen. Nicht verwechseln sollte man diese Neume mit der CAD micro.
Über diesen Unterschied an der grundsätzlich selben Neume hinaus, verwendet MR sehr oft an Stellen, wo St.Gallen CAD mega schreibt CAD micro. Möglicherweise manifestiert sich hier eine Diskrepanz zwischen westlicher frOc-Tradition und östlicher frOr-Tradition.
Die CAD mega steht vor allem im Mess-Repertoire keineswegs nur am Ende, sie kann ein wichtiges Wort innerhalb des Satzes, oder auch am Anfang abrunden, ausbreiten, a.e.: 0686, 0689, 0710.
Die CAD mega D (über die große Terz = Dur) ist die Kadenz des 5., 6., 7. und 8. Modus.
Die CAD mega m (über die kleine Terz = moll) ist die Kadenz des 1. und 2. Modus.
Im 3. und 4. Modus nimmt diese Funktion die CAD dt ein.
7335 „mun-di“ nk Einstieg !
verb 8
Hebt im 8. Modus ein wichtiges Wort hervor. Steht üblicherweise in Verbindung mit Cento Ω.
Leitet im Cento RP8 Ω mehrmals INCCAD ein, wenn darauf ein PO folgt. Folgt PPO, so übernimmt diese Aufgabe die Bivirga subpunctis.
CAD dt mega
CAD- Formel der Responsorien des 3.Modus