Inhaltsverzeichnis
⬅️ SEMIOLOGIAx
Artikulation
k – nk / kurrent – nicht kurrent
Die Rhythmusfrage hat die Choralforschung des ganzen 19. Jahrhunderts geprägt. Die unterschiedlichsten Erlärungsversuche wurden angestellt, alle unter dem Einfluss der mensuralen Musikvorstellungen dieses Jahrhunderts.
Die Auseinandersetzung wurde von Rom her entschieden. (Die folgende Darstellung ist eine Replik auf die Vorträge von G. Joppich, L. Agustoni und R. Fischer bei den Gregorianikkursen Essen ab 1984). Eine Aufforderung von Papst Pius X an den Abt von Solesmes verlangte, schnellstmöglich ein Rhythmussystem zu entwickeln, das den Gregorianischen Choral in der Praxis der Pfarren und der Domkirchen allgemeingültig zu singen ermöglichte. Der Abt gab diesen Auftrag an seinen Choralspezialisten André Mocquereau weiter, der daraufhin sein grundlegendes Werk „Le nombre musical“ in wenigen Jahren erstellte.
Mocquereau war Schüler von Joseph Pothier, von dem das Graduale von Solesmes 1883 stammte, das als Graduale Romanum 1907 offizielles Choralbuch der römisch katholischen Kirche wurde und damit sakrosankte Position in der katholischen Kirche einnahm.
Mocquereau hatte zuvor allzu schnelle Publikationen kritisiert und wenigstens 70 Jahre Forschungsarbeit postuliert, bevor Endgültiges über den Gregorianischen Choral gesagt werden könnte. Der Auftrag aus Rom brachte ihn in ein Dilemma. Gegen die vorschnellen Entscheidungen seines Lehrers Pothier, der inzwischen aus Solesmes ausgetreten und Abt des wiedergegründeten Klosters St. Wandrille geworden war, publizierte er die Quellen in der „Paléographie gregorienne“; nun aber musste er selbst vorschnell ein „Rhythmussystem“ des Gregoriansichen Chorals erstellen.
Er ging von der Gleichwertigkeit aller Töne aus, die in Zweier- und Dreiergruppen zu organisieren seien. Solesmes tritt dem bis heute wider besseres Wissen aus finanziellen Gründen nicht entgegen, und hat sich zuletzt aus der Gregorianikforschung praktisch gänzlich zurückgezogen. Trotzdem bleibt die „Zählmethode von Solesmes“ weiterhin als „Ward-Methode“ vor allem in Südamerika mächtig.
Der Solesmenser Mönch Eugene Cardine hat in den Sechzigern des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem Rhythmus des gregorianischen Chorals neu gestellt und wurde im eigenen Kloster stark angefeindet. Er argumentierte gegen den „Äqualismus„ , gegen die Zählmethode von Solesmes. Wer die ältesten, adiastematischen Quellen ernst nimmt, muss eine „Gleichwertigkeit aller Töne“ ablehnen.
Die Rezeption dieser Erkenntnisse ist noch einmal behindert durch das Faktum, dass die europäischen Staaten gerne ihre nationale musikwissenschaftliche Identität auf ihre lokalen Handschriften stützen, auch wenn die frühestens aus dem 12.Jahhundert oder später stammen. Diese „nationale“ Vereinnahmung hat eine Entsprechung in den Partikularinteressen verschiedener Orden (Zisterzienser, Praemonstratenser, Dominikaner…). So wird die Erforschung eines gesamteuropäischen Phänomens wie es der Cantus gregorianus ist, behindert.
Alter der Quellen
In der Notation immer noch der Rhythmus von Solesmes des 19.Jh C - E+H überprüft durch L + Ch MR (frOc) vor allem für H Korrektur
Anfangsartikulation + eine Neume hört mit der letzten Note auf
Wir gehen von einer gesamtheitlichen Position aus, die gleichzeitig historisch frühestmöglich angesiedelt ist. Das frühestmögliche sind hier die adiastematischen Handschriften aus St.Gallen, vor allem C, H, E, aber auch L und Ch.
Das Problem dargestellt an dem Wort „deus“ im OF „Deus enim firmavit“ 0511
Es sind Quellen wie Kl oder Zt, die die Quadratnotenschrift von Solesemes geprägt haben: ein quadratischer Pes, gefolgt von zwei Rhomben (die Breitfeder dreht sich in Abstieg nach rechts). Ein „breiterer Ton (Virga, in Kl Uncinus) steht erst auf der Endsilbe.
Die Anfangsartikulation wird außer in Zt+Kl in allen hier vorgestellten Quellen durch Trennung sichtbar gemacht.
Der Gipfelton muss nach den Schreibregel in G und Bv immer eine Virga sein. Das suggeriert die Wichtigkeit des Gipfeltons (GJ hat den Mehrwert des Gipfels wegen der Virga in allen Kontexten eingefordert. Ungeachtet psychologischer Grundgegenheiten in der Musik widersprechen wir dem auf Grund der Notation in L + Ch: der Gipfelton ist nur Punktum.
Die Endartikulation jeder Neume wird in G grundssätzlich vorausgesetzt, ohne extra notiert zu werden. Bam, aber vor allem L + Ch notieren sie ebenso grundsätzlich.
codex E wird dieser Gegebenheit gerecht:
•Erster Ton Virga mit Episem
•Gipfelton Virga mit celeriter entlastet
•Endartikulation nicht notiert aber mitzudenken.
Der Stein von Rosette des Eugene Cardine
Initio debilis
Der Torculus specialis
Es war eine der großen Erkenntnisse um die Mitte des 20. Jahrhunderts, dass der Torculus in bestimmten Sprechsituationen (akzentvorbereitend, intonierend, ein Wort am Ende abfangend-artikulierend) in bestimmten Quellen (nicht nur in den aquitanischen!) als bloße Clivis dargestellt ist. Damit war die Bezeichnung „initio debilis“ für den Torculus eingeführt: Torculus mit schwachem Anfang. Diese Erkenntnis in Verbindung mit dem von Agustoni initiierten Axiom, dass eine Neume (ohnehin) nicht mit dem ersten Ton beginnt, es sei denn sie ist „anfangsartikuliert“, stellt die Bezeichnung des Torculus als „Pes flexus“ in ein neues Licht: Der Torculus specialis ist eben kein Pes mit Anhängsel (wieder vom Anfang her gedacht), sondern er ist eine Clivis mit Emphase angesungen, er ist eine „Clivis urgens“.
Diese Position ist nun konsequent auch auf den kPes anzuwenden (= Virga urgens) und erhält ihre Bestätigung vor allem durch die Bivirga und ihre Behandlung in den adiastematischen Quellen E – L – Ch – MR.
vide: 7573 MR
Die Bivirga urgens
Die Bivirga urgens ist eine Bivirga die mit kPes unisonisch an den vorhergehenden Text anschließt. Diese Emotionalität ist subjektiv und in den Quellen unterschiedlich stark notiert. Während sich St. Gallen sehr zurückhält, ist L etwas weniger zurückhaltend. Am häufigsten notiert MR Bivirga urgens, knapp gefolgt von Ch. Die Frage „Ist das nun ein Ton oder nicht?“, „Ist das eine Dreiton- oder Zweitonneume?“, „Ist das eine einstufige- oder zweistufige Neume?“ ist hier ad absurdum geführt. Eine Birga ist eine Bivirga, ist eine Bivirga.
In unisonischen Kontexten gibt es nie Bivirga urgens.
Der kurrente Binnensilbenpes
Anfangsartikulation
Der Akzentpes in Aquitanien
Bivirga urgens
Die Formula alloquium
Im 1INC Clv
Die adiastematischen St.Galler Hss bieten eine detaillierte Artikulation jeder einzelnen Neume. Im Gradual-Repertoire bestätigen das L und Ch eindeutig. Für das Off-Repertoire gibt es keine Quellen, die L oder Ch entsprechen würden. Das Wissen über das Gradual-Repertoire sollte allerdings ausreichen, codex H adäquat zu interpretieren.