Das Kloster Solesmes begann die Restitution des cantus gregorianus mit dem Einsammeln (Kopieren) der Quellen aus ganz Europa, ohne damals das Alter dieser Quellen bestimmen zu können. So war man der Überzeugung, codex Montpellier (12.Jh) sei das Originalexemplar aus der Zeit Papst Gregors (+604) und wählte ihn mit seiner Doppelnotation (Neumen und Buchstaben für den Melodieverlauf) zur Basis der Restitution. J.Pothier nahm für die von ihm entwickelte Quadratnotenschrift die Notation im Anjou des 15. Jahrhunderts zum Vorbild.
Die „Zählmethode von Solesmes“, alle Töne sind gleich lang…, das für das 19. Jh. typische Vorurteil, eine Neume begänne mit der ersten Note und das völlige Negieren der Wortbetonungen (siehe die „typisch gregorianischen“ Liedvertonungen in Saint Saens Oratorio de Noel) prägen bis heute die Vorstellung was Gregorianischer Choral sei.
Dazu kommt das völlig geschichtslose Weltbild, Gregorianischer Choral sei allzeit und immer ein und das Selbe gewesen, sozusagen dogmatisch um 600 festgelegt und bis heute unverändert, von kleinen Abweichungen abgesehen, erhalten. So etablierte sich der Zustand des Chorals um 1200 zur ewig gültigen und immer schon so gewesenen Norm.(1)
Um die Mitte des 20.Jahrhunderts begann mit und um E.Cardine eine Neusichtung der Quellen. Die historische Zuordnung der Handschriften ermöglichte eine neue Sicht auf das Werden und sich Verändern des Cantus. St.Gallen (Cantatorium und Hartker) und codex Laon alle vor 1000! wurden nun zu Leithandschriften, und die frühen diastematischen Quellen aus Aquitanien ( Albi, Yrieix, Toledo 44.1 und 2) und Benevent (33, 34, 19/20, 21, Montecassino) zeigen deutlich die Veränderungen im Übergang zum 12. Jahrhundert auf.
Die um und vor 800 im Frankenreich redigierten Melodien wurden im 10.Jahrhundert erstmals linienlos aufgeschrieben. Schon im 10. Jahrhundert zeigt sich eine leichte Veränderung im Zugriff auf die Kompositionen (2). Im 11.Jahrhundert wird die „do-Revision“ sichtbar, früher 'germanischer Choraldialekt' genannt, aber auch die „plerosis“, das Auffüllen von Intervallsprüngen zu Tonleitern (e.g.: Kyrie orbis factor, Fassung A X.s, Fassung B XIV.s). Vor allem die Erkenntnisse zur „Artikulation“, den rhythmischen Hinweisen in den frühen adiastematischen Quellen (C, L, H) die klar machen, dass es kurrente und nicht kurrente Neumen (Silben) gibt, waren neu. Aber auch dass diese Erkenntnisse bereits in adiastematischen Quellen vernachlässigt werden (Ch, MR) und in den diastematischen Quellen völlig vergessen werden (A,Y, Bv…), wurde sichtbar. Dazu hat keine dieser Erkenntnisse bis heute ihren Weg in die praktischen Ausgaben gefunden. Es ist an der Zeit den cantus gregorianus neuerlich und von Grund auf, unabhängig von den traditionellen Ausgaben zu hinterfragen.
Unsere vergleichenden Tableuas der wichtigsten Zeugen von 900 bis 1300 ermöglichen eine Blick auf die Veränderungen des Cantus in dieser Zeit, den Wandel von subtiler Sprachlichkeit (stylo verbo melodico) zum Cantus planus des 13. Jahrhunderts, dem jede rhythmische und melodische Subtilität fehlt. Die Cento-Analysen im Antiphonen- und Responsorialrepertoire ermöglichen es uns erstmals, die einzelnen Neumen nicht nur in den Parallelstellen der anderen Handschriftem zu vergleichen, sondern auch in allen Paralellstellen der selben Handschrift. Das ergibt einen neuen Blickwinkel. Zum Beispiel ein Quilismascandicus wird nicht mehr aus den Quellen des 12. Jahrhunderts interpretiert, sondern aus den Parallelstellen der selben adiastematischen Hanschrift und wird deshalb zu Pes quilismaticus. Es wird sichtbar, dass Quilisma und Oriscus zwar Neumen, aber keine Töne sind. Vier wesentliche Erkenntnisse haben sich aus dem Cento-Vergleich gewinnen lassen:
Das Quilisma ist ein Intervallzeichen in einer linienlosen Notenschrift (altius in der karolingischen Minuskel). Mit der Einführungen der Linien verdunstet es. Die Zisterzienser kennen kein Quilisma mehr, nur die St.Galler Tradition verwendet es weiter, bleibt aber eben auch weiterhin adiastematisch. Die plerosis besetzt nun den herrenlosen Raum zwischen den beiden Tönen des Terzpes.
Der Oriscus steht ausschließlich am Übergang von einem Cento zum anderen, oder am Beginn der Kadenzformel des Cento. Als Pressus repercutiert er nicht(!) zwischen sich und den vorherigen „Ton“, er verschmilzt zu einem, wenn auch breiten, Ton. Seine sonstigen Aufgaben als isolierter Oriscus etc. zu besprechen würde hier zu weit führen.
initio debilis: Die Erkenntnisse zum Torculus specialis sind auch auf Pes etc. anzuwenden. Der erste Ton, der so leicht ist, dass er sogar entfallen kann, ist ein portamento, ohne bestimmte Tonhöhe. Als Folge davon gibt es auch einen eintonigen Pes. Das Tönezählen zur Benennung der Neumen ist obsolet, ja irreführend. Wenn eine Silbe in der einen Quelle ein Porrectus (sol-fa-sol) ist, in der anderen aber mit einem portamento eröffnet, also ein Torculus resupinus ist, (fa-sol-fa-sol) so bleibt es doch die selbe Neume. Ein Torculus specialis, etwa ein Intonationstorculus sol-do-si ist nicht als Pes flexus zu verstehen wie Lehrbücher behaupten, sondern als 'Clivis emphatica', oder 'Clivis urgens': Clivis mit einleitendem portamento.
Als vierte Erkenntnis wird im Centovergleich klar, dass die Liqueszenz, auch die diminutive Liqueszenz, nie einen zweiten kleinen Ton hat. Die Argumentation „Hier steht üblicherweise ein Pes, also muss in der Liqueszenz ein Rest vom oberen Ton übrigbleiben“ ist umzukehren: Die Liqueszenz weist darauf hin, dass genau der obere Ton ausgelassen werden muss. Die vielen Beispiele dafür können hier nicht vorgestellt werden.
Immer noch basiert die Arbeit am und mit dem Gregorianischen Choral auf dem 19.Jh. (Pothier 1883 = Missale Romanum 1907) und damit auf dem Zustand des Cantus um 1200. Wenn auch das Graduale novum 2011 den Melodieverlauf in Richtung 1000 verändert hat, in Bezug auf Artikulation und Interpretation der „Spezialneumen“ steht es immer noch im 19. Jahrhundert. Ohne grundsätzliche Überarbeitung der Quadratnotation ist eine Änderung auch nicht möglich. Wenn Sie Cantus planus wie im 13.Jahrhundert singen wollen, können sie das weiterhin jederzeit tun. Wenn Sie sich aber dem authentischen cantus gregorianus nähern wollen, wie er uns in den adiastenmatischen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts tradiert ist, so sind Quilisma und Oriscus kein Ton, müssen Sie viel sprachlicher und lebendiger singen, als es in den heutigen Großscholen geschieht.
(1) In diese Weltsicht passt auch das Gerede vom „Ende der Geschichte“ um 1990, weil das Sowjetsystem zusammengebrochen war.
(2) equaliter in C und E, IN Invocavit me ≠ IN Beata sit
e.g.: 7524 Cento A incipit:
OC MR - Wc - Bv (Fo)
OR H - Ka - Tol (Wm,Lc)
aber 7524 Cento A terminatio:
MR kennt nur die Formel accentus incipiens. in diesem Fall gehen aber alle, außer Ka (Wm) mit MR.
Cento F: nur MR und Wc mit NormalCAD.
0667 „dabo“
7261 „gen-tes“
MR
drei verschiedene Schreibarten der CAD dt.
0053 neque
0070 vestra
0624 ecce
0741 defuncti sunt
0034 „et benedic hereditati tuae“